Die Bücher


 

 

 

 

Von wegen Stille Nacht

 

Verlag: Resistenz-Verlag

ISBN: 3-85285-049-5

 

Wo der Weihnachtsmann wohnt

 

Vor Jahren, nein, es sind Jahrzehnte vergangen seither, hat mich meine kleine Tochter kurz vor Weihnachten einmal gefragt, wo denn der Weihnachtsmann wohnt und wie es dort aussieht, wo er wohnt. Und ich habe herumgestottert damals und ihr so recht und schlecht eine Geschichte erzählt, die ich gleich danach, glaube ich, wieder vergessen habe. Und dann, Jahre, Jahrzehnte später eben, mitten im Sommer, ist mir ihre Frage wieder eingefallen. Ich war hoch im Norden und bin zu Gast gewesen in seinem Haus. Ich habe Tage gebraucht, bis ich es gemerkt habe.

Eines Abends, die Sonne war schon hinter den bewaldeten Berg hinunter gestiegen, aber es war noch hell, so hell, wie es eben im Norden ist, wenn es schön langsam Nacht wird, eines Abends also bin ich noch einmal auf die Terrasse dieses Hauses hinausgegangen und habe auf den See geschaut, der ruhig, beinahe feierlich, fast andächtig nur wenige Meter unter mir gelegen ist, und habe dieses weiche, nördliche Abendlicht gespürt. Es war ein berührender Augenblick, und ich habe nicht gewußt, ob ich in das Haus zurück gehen soll oder ob ich nicht doch lieber warten soll, bis es dunkel wird.

 

Aber meine Ungeduld und der Wunsch diesen Anblick in mir zu speichern wie ein Bild auf einem Film haben bewirkt, daß ich zurück in das Haus meiner Gastgeber gegangen bin. Vorsichtig habe ich die Türe hinter mir geschlossen und bin verwirrt von der Intensität des Augenblicks ziellos herumgewandelt in diesem Haus, wie ich es die Tage vorher schon oft getan hatte, stumm gemacht von der übermächtigen Kraft und Ruhe, die es für mich ausgestrahlt hat.

Diesmal bin ich durch das Wohnzimmer in das Vorzimmer und dann in das daran angrenzende Lesezimmer gegangen. Dort habe ich mich niedergelassen und die vielen Bücher bestaunt, die vom Fußboden bis zum Plafond fein säuberlich geordnet in hellgrünen Regalen verstaut sind.

Oben, im Wohnzimmer im ersten Stock, hat jemand Klavier gespielt, und ich habe es nur sehr gedämpft gehört. In dieser ruhigen Atmosphäre ist mir die Frage meiner Tochter wieder eingefallen. 

Und wirklich, ich sage euch, dort wohnt er, der Weihnachtsmann. 

Das ganze Jahr über wohnt er dort, mit seiner Frau und dem großen Hund mit dem dunkelbraun-schwarzen, glänzenden Fell.

 

Er geht selten aus dem Haus, meist abends, wenn die Sonne noch nicht ganz untergegangen ist, dann ruft er den Hund, geht mit ihm durch den Park bis zu dem kleinen, weißen Podest mit dem ebenfalls weißen Löwen, öffnet die schief hängende Gartentür aus Eisen, schließt sie hinter sich und wandert den schmalen Weg hinauf in den Wald hinter dem Haus zuerst und dann wieder hinunter auf das freie Feld, von dem aus man links von der Landzunge, die hinausragt in das Blau, den See sehen kann, dunkelblau im Abendlicht. Meist bleibt er dort stehen, und sein Hund tut es ihm gleich, und sie schauen beide, ob Bewegung ist auf dem Feld. Wenn der Hund etwas erspäht, dann macht er den Weihnachtsmann mit einem eigenartigen, sanften Ton, den man einem so großen Tier ganz und gar nicht zutraut, darauf aufmerksam.

 

Beide beobachten sie die Vorgänge auf dem Feld eine Zeit lang, dann nehmen sie den Weg hinauf auf den Bergrücken der Landzunge. Sie gehen vor bis zu der Stelle, wo der kleine Wald wieder aufhört und der Weg über verwitterte Felsen hinabführt zur Spitze der Halbinsel.

 

Der Weihnachtsmann geht vorsichtig bis zum letzten, trockenen Fußes erreichbaren Felsen, wartet auf den Hund und schaut dann auf das Glitzern hinaus, das die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf den See zaubern.

Erst wenn das Glitzern verschwunden ist drehen sie vorsichtig um und wandern zurück zum Haus. Der Weihnachtsmann geht dann meist in die Küche, wo seine Frau das Abendessen zubereitet hat. Gemeinsam sitzen sie im Eßzimmer, der Hund in der Tür zwischen Küche und Eßzimmer. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern zaubern eine märchenhafte Stimmung, das Fleisch, es ist Elchfleisch, weil der Weihnachtsmann oft von seinen Nachbarn einen Elch als Geschenk bekommt, ist immer anders zubereitet, weil die Frau des Weihnachtsmannes Rezepte sammelt aus allen Ländern der Welt und er selbst sie ihr oft mitbringt, wenn er von seiner Weihnachtstour zurück kommt. Sie trinken immer Wein dazu, einmal aus Spanien, dann wieder aus Italien, manchmal sogar aus Österreich.

Nach dem Abendessen, wenn die Frau des Weihnachtsmannes in der Küche das Geschirr abwäscht, geht er mit dem Weinglas in der linken Hand in seine Bibliothek, und der Hund trottet bedächtig hinter ihm her.

 

Dann setzt er sich in einen der beiden beigen Ohrensessel und überlegt, welches Buch er aus dem Regal nehmen soll. Meist ist es ein Lexikon, oft eines über die Geschichte Europas, manchmal aber auch eines über Kunst.

Der Weihnachtsmann ist ein sehr kluger Mann. Das kommt daher, daß er sich alle Fragen, die während des Tages auftauchen und auf die er keine Antwort findet, merkt, damit er am Abend in einem seiner Nachschlagewerke nachlesen kann.

So ist es dazu gekommen, daß er über alle Länder dieser Welt Bescheid weiß. Dieses Wissen um die Geschichte, die Kulturen und Bräuche dieser Länder kommt ihm bei seiner Arbeit sehr zugute.

Er liebt seine Arbeit, der Weihnachtsmann, und er wüßte nicht, was er täte, wenn er nicht der Weihnachtsmann wäre. 

 

Feedback zu Von wegen Stille Nacht:


Helene: Lieber Kurt, wie von dir empfohlen, habe ich dein Weihnachtsbuch – jeden Tag im Advent eine Erzählung – gelesen. Es ist dir gelungen die Inhalte kontroversiell aufzubauen. Danke, du hast mich durch den Advent geführt.